Als ich am Freitagnachmittag beim Stralsunder Kanuclub ankomme, habe ich das Gefühl, in einer Gruppe bestens trainierter Hochleistungssportler gelandet zu sein. Das hier ist eine andere „Szene“, als bei den Seekajaktreffen der SaU. Ein Surfski reiht sich an den anderen und die Kajaks sind Rennmaschinen vom Typ Speedliner oder Streamliner. Dagegen kommt mir der Zirpelspinner wie ein gemächliches Tourenboot daher.
Ob ich überhaupt das richtige Boot mithabe, weiß ich nicht. Aber der Zirpelspinner ist schneller als die GrüneGräte und ich hoffe, dass ich seiner ausgeprägten Luv-Gierigkeit mit der neuen Steueranlage Herr werden werde. Apropos Wind. Seit Tagen habe ich die Prognosen für den morgigen Samstag verfolgt, wonach es den ganzen Tag über aus Westen mit 5 bft wehen soll. Bis zuletzt hatte ich die Hoffnung, dass er sich noch etwas legen würde. Davon kann hier vor Ort aber keine Rede mehr sein.
Ob das Rennen denn überhaupt stattfinde, frage ich Gerhild Winkler, die Organisationschefin des Hiddenseemarathons. „Ach mit dem Fünfer könnten wir gut leben. Aber es soll wohl auf sechs gehen, in Böen sieben und da wird es auf der Ostsee zu gefährlich. Wir haben aber Alternativrouten und außerdem noch nie jemanden mit trockenem Boot nach Hause geschickt. Also bau erstmal Dein Zelt auf. Um acht ist die Einweisung.“ Nun gut. Ich hätte wissen können, dass das hier eine andere Nummer ist. Wie sooft bin ich auf die Werbung hereingefallen: Mit dem „gut trainierten Paddler“, der nach der Ausschreibung keine Schwierigkeiten haben würde, die 70 Kilometer rund um Hiddensee zu paddeln, hat man mich dann doch wohl nicht gemeint. Aber dabei sein ist alles.
Zur Fahrteinweisung finden sich rd. 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein. Gleich zu Beginn legt Gerhild fest, dass aus der Umrundung nichts wird. Wir werden stattdessen von Stralsund aus boddenseitig bis an die Nordostspitze von Hiddensee paddeln, wenden und zurück zum Ausgangspunkt zurückfahren. Gerhild erklärt die Streckenführung anhand von Karte und einigen Fotos, auf denen markante Punkte der Tour zu sehen sind. Ich finde das hilfreich. Zwischen Neubessin und dem zu Rügen gehörenden Bug muss man sich genau entlang der Fahrwasserbetonnung halten. Hier bildet sich ein Sandhaken, der aus Naturschutzgründen nicht befahren werden darf. Die Startnummern werden ausgegeben und jeder bekommt eine Streckenkarte und ein leuchtend gelb-orangenes Basecap. „Setzt es bitte auf, damit wir Euch in den Wellen sehen könnt, wenn Ihr kentert!“ mahnt Gerhild. Dem Stralsunder KC ist die Sicherheit der Teilnehmer wichtig und so stehen acht Begleitboote zur Verfügung von Seenotrettungsboot „Hertha Jeep“ bis hin zu mehreren motorisierten Schlauchbooten von DLRG, Wasserwacht und THW. Sie werden uns morgen während der Tour wie ein Schatten begleiten.
Um vier Uhr stehe ich auf. Ab halb sechs bringen wir die Boote zu Wasser. Vor dem Start werden noch einmal alle Startnummer aufgerufen und um 6.10 Uhr fällt der Startschuss. Die Surfskis und Renneiner preschen los. Ich versuche mich an meine selbst gesetzte Taktik zu halten. Sie besagt, nicht schneller als 7,5 km/h zu fahren und mich von dem Starttempo der schnellen Rennboote nicht mitziehen zu lassen. Im großen und ganzen geht sie auf. Ich liege sofort an letzter Stelle. Hier am Eingang des Strelasunds ist es um diese Zeit erstaunlich windstill und deshalb hat auch der Fahrer des ein oder anderen PE-Bootes einen recht flotten Start hingelegt. Während die Spitze des Feldes schon nach wenigen Minuten kaum noch zu erkennen ist, versuche ich, innerhalb des letzten Viertels des Startfeldes ein Boot zu finden, dass eine für mich angenehme Geschwindigkeit fährt. So taste ich mich in den ersten 90 Minuten immer ein Stückchen weiter nach vorne.
Bald erreiche ich Frank, einen Paddelkameraden aus Magdburg und eine gute Stunde fahren wir nebeneinander her. Wir sprechen über Dinge, über die Männer auf so einer Tour sprechen. Was für ein Boot man fährt, wie oft man schon am Hiddenseemarathon teilgenommen hat und wie das heute mit dem Wind so weitergehen wird. Mit anderen Worten: Wir sparen mit unseren Kräften. Der Wind kommt jetzt mit gut 5 bft aus Nordwest und die weißen Schaumkronen auf den Wellenkämmen nehmen zu. Aber der Bodden ist flach und so bauen sich keine hohen Wellen auf. Auch bricht hier nichts. Aber wir haben das Gefühl, feinstes vorpommersches Kopfsteinpflaster unter dem Kiel zu haben. Irgendwann wird Frank langsamer und der Abstand zwischen uns vergrößert sich. Es geht über den Schaproder Bodden Richtung Seehof. Man erkennt Neuendorf auf Hiddensee und bald zeichnen sich auch die roten Fahrwassertonnen ab, die jetzt dichter stehen. Während ich gerade einmal 24 km zurückgelegt habe, kommen mir bei Seehof die ersten beiden Teilnehmer entgegen, die bereits auf dem Rückweg sind. Sie haben zu diesen Zeitpunkt einen Vorsprung von rund 14 (!) km. Aber bange machen gilt nicht.
Jetzt geht es in den Vitter Bodden. Das Fahrwasser verläuft hier von Ost nach West und ich steuere auf eine der Backbordtonnen zu. Mein Ziel die Tonne 12/W2 wo das Fahrwasser aus dem Wieker Bodden in das auf die Ostsee führende mündet. Mir kommen jetzt immer mehr Teilnehmer entgegen, die auf dem Rückweg sind. Fast wäre ich in den Wieker Bodden gefahren, merke aber, dass ich auf Abwege gerate und brauche tatsächlich den Kompass, um wieder auf Kurs Richtung offene See zu kommen. Der Wind hat nicht abgenommen und ich kämpfe mich langsam an der Südwestspitze des Bugs, der zu Rügen gehört, entlang. Plötzlich taucht in einigen Kilometer Entfernung ein grünes Boot auf. Ich mag es kaum glauben, aber erhalte sogleich von einem weiteren entgegenkommenden Paddler die Bestätigung: Noch 3,5 km bis zur Wendemarke, die der Katamaran markiert. Also noch eine halbe Stunde. Immer mehr Paddelkameraden kommen mir entgegen und ich fühle mich schon fast so, als ob ich das Ziel erreicht hätte.
„Na, ich bin der letzte?“ frage ich, als ich den Katamaran ereiche. „Nö, da sind noch zwanzig Boote hinter Dir. Du liegst gut im Mittelfeld.“ Ich mag es kaum glauben und denke, das Schlimmste schon überstanden zu haben. Ich gönne mir einen Müsliriegel und merke aber bald, dass ich mich zu früh gefreut habe. Nachdem ich 31 Kilometer fast ausschließlich gegen den Wind gepaddelt habe, schieben mich nun die Wellen wieder in den Bodden hinein und ich habe erst einige Schwierigkeiten, meinen Paddelstil umzustellen. Aber die Unsicherheit währt nicht lange. Der Wind hat von Nordwest auf Südwest gedreht und spätestens, als der Bug wieder erreicht ist, heißt es erneut, gegen fünf bis sechs bft. anzupaddeln. Und der Wind nimmt zu. In der Höhe von Schaprode habe ich das Gefühl nur noch auf der Stelle zu stehen, halte gut 30° vor und merke, dass dies der absolute Tiefpunkt der Tour ist. Die Wellen sind 70 bis 80 Zentimeter hoch, fast überall nur noch weiße Schaumkronen und „Hertha Jeep“, die rund einen Kilometer hinter mir fährt, scheint in Alarmstimmung zu sein. Ich will einen Schluck trinken, lasse das Paddel mit einer Hand los und fast schlägt eine Böe es mir aus der anderen. Vielleicht wäre das Ende der Fahrt gewesen, denn ich bin mir nicht sicher, ob der Panikverschluss der Paddelleine diesem Windstoß Stand gehalten hätte. Frank, der kurz nach mir den Wende-Katamaran erreicht hatte, hat mich zwischenzeitlich eingeholt und verzichtet aber auf den Vorhaltewinkel.
Mühsam quäle ich mich an Öhe und dem Udarser Wiek vorbei. Langsam lässt der Wind etwas nach und es geht wieder etwas besser voran. Vor Ummanz tummeln sich die Wind- und Kitesurfer und plötzlich ist Frank wieder hinter mir. Ich hatte vermutet, dass er mich längst überholt hätte. Aber wahrscheinlich hat ihn der Wind irgendwo so dicht an Rügen gedrückt, so dass er notgedrungen eine Hundekurve gefahren ist. Wir nicken uns kurz zu und sind uns einig: Langsam nervt der Wind. Als ich die Heuwiese passiere, liegt Frank schon wieder weit vor mir. Und plötzlich ist der Wind weg. Nach der Wettervorhersage sollte er eigentlich bis spät in den Abend weiter blasen, aber ich habe das Gefühl, dass er ist plötzlich eingeschlafen ist. So paddele ich die nächsten drei bis vier Kilometer entspannt vor mir her. Eigentlich weiss ich jetzt schon, dass ich mein Ziel erreichen werde. Nach den Anstrengungen der letzten zwei, drei Stunden will ich den Kubitzer Bodden, den Sonnenschein und die schöne Welt genießen. Doch Freund Südwestwind hat sich nur einen kleinen Mittagsschlaf gegönnt. Gestärkt und voll neuem Tatendrang stellt er sich dem Rest des Tages. Also weiter dagegen an. Ich will jetzt nur noch möglichst schnell in den Strelasund gelangen und hoffe, dort die letzten vier bis fünf Kilometer unter Windabdeckung fahren zu können. Alles zieht sich jetzt wie Kaugummi. Als ich den Parower Haken passiere, muss ich mich zwingen, die Bucht nicht auszufahren, sondern an meinem 180° Kurs festzuhalten. „Komm doch zu mir, schöner Zirpelspinner“ scheint die Windabdeckung zu rufen. Ich widerstehe der Versuchung und suche die Skyline von Stralsund nach dem Steg des Stralsunder KC ab. Irgendwann glaube ich ihn ausgemacht zu haben. Nach 62 Kilometern, neun Stunden und 45 Minuten komme ich als 36. an. Ein paar Boote werden noch folgen. Es gibt Applaus. Der Zirpelspinner und ich haben es geschafft.
Fotos und Text Gero M.