Spieka Neufeld
Um drei Uhr morgens werde ich wach. Zwei Stunden vor Hochwasser machen sich Krabbenkutter von Spieka Neufeld auf das Wattenmeer auf. In dem kleinen Hafen rund 15 km südlich von Cuxhaven genieße ich die Morgendämmerung. In den kommenden drei Tagen werden wir an der Einweisungsfahrt für den Europäischen Paddelpass Stufe 4 (Küste) unter Leitung von Udo Beier teilnehmen.
Das EPP-System etabliert sich unter dem Dach des DKV seit einigen Jahren neben dem Schein- und Ausbildungssystem der Salzwasser Union. Kennt letzteres die Stufen A (Seebefähigung), B (Fahrtenleiter) und C (Ausbilder), wodurch es stark funktionsbezogen ausgerichtet ist, hat das EPP-System eher die Weiterqualifikation des einzelnen Paddlers im Auge. So kann man die EPP-Stufen Schritt für Schritt durchlaufen, ohne dass man sich zwingend auf die Rolle als Fahrtenleiter oder gar Ausbilder vorbereiten muss. Natürlich sind die Inhalte in weiten Teilen identisch. Die großen Themen Bootsbeherrschung, Navigation, Wetterkunde machen jeweils den Kern aus. Das EPP-System ist standardisierter, was auch darauf zurückzuführen ist, dass mit ihm eine Vergleichbarkeit auf Europäischer Ebene herbeigeführt werden soll. So wird für den EPP 4 vorgegeben, dass mindestens bei Windstärke 5 gepaddelt werden muss. Von den Anforderungen her entspricht der EPP 4 im wesentlichen dem A-Schein der SaU. Zusätzlich muss der Kandidat aber im bewegten Wasser auf beiden Seiten rollen können.
Daniel und ich hatten uns in den vergangenen Wochen intensiv auf die Fahrt vorbereitet. Das Seegebiet vor und um Neuwerk gilt als schwierig. Anders als im Bereich der Ostfriesischen Inseln ist man sehr schnell sehr weit von der Küste entfernt und hat dadurch kaum Fluchtpunkte und Peilmarken. So werden wir am ersten Tag 50 Kilometer zurücklegen, ohne dass wir währenddessen an "Land" gehen werden. Pausen machen wir nur auf trocken gefallenen Sandbänken. Deshalb kommt einer genauen Beobachtung des Seewetterberichts eine besondere Bedeutung zu. Auch ist es wichtig, sich intensiv mit der Tide und der Gezeitenströmung zu befassen. So liegt vor dem Hafen von Spieka Neufeld ein Wattrücken, der nur bis ca. 1 1/2 Stunden vor und nach Hochwasser befahren werden kann. Verpasst man dieses Zeitfenster, droht man trocken zu fallen und muss warten, bis einen in 10 Stunden die nächste Tide befreit. Einen Großteil dieser Informationen hatten wir uns durch das Studium der Seekarte beschafft, aber auch durch die sehr guten Tourenbeschreibungen im Internet, die Udo dort im Laufe der Jahre eingestellt hat, beschafft.
Um den Knechtsand nach Neuwerk
Mit diesen Informationen gewappnet, verlassen wir Spieka Neufeld entlang des Prickenwegs, um alsbald die Tonne WE 10 am Horizont zu finden. Daniel führt heute die Gruppe und muss uns den Weg durch das Watt weisen. Wir wollen nicht auf direktem Weg nach Neuwerk, sondern um den Knechtsand herumfahren, um später über das Nordertill Neuwerkloch anzusteuern. Obwohl ich den Weg am Schreibtisch wieder und wieder durchgegangen bin, fällt es mir zunächst nicht leicht, mich in der Morgendämmerung zu orientieren. In einer Entfernung von zwei Kilometern ist eine Tonne, nur als kleiner Punkt am Horizont wahrzunehmen, vom Seekajak aus kaum zu erkennen. Hinzu kommt, dass sich nicht selten am Horizont haufenweise Tonnen (oder was auch immer) tummeln und die Einordnung, "was ist was", schwierig ist. Ich habe mir angewöhnt, auf der Karte die Kurse einzuzeichnen und mit Gradzahlen zu versehen, damit ich die Tonne mit Hilfe des Kompass ansteuern kann, auch wenn man sie noch nicht erkennt. Bald hat Daniel den Kandidaten für die Tonne WE 10 ausgemacht und er behält recht. Von nun an ist die Navigation entlang des Tonnenstrichs einfach. WE 8, R 7, R 5 etc. Die Seezeichen reihen sich wie auf einer Perlenkette auf und wir können sie bei der hervorragenden Sicht an diesem Tag immer sehr früh erkennen. Als wir die Robinsbalje herunterfahren, merken wir, dass uns die Strömung kräftig hinaus zieht.
Exkurs: Ebbe und Flut und die Zwölfer-Regel
Das Spiel von Ebbe und Flut folgt an der Deutschen Nordseeküste einer fast perfekten Gesetzmäßigkeit. Wenn Ebbe ist, braucht das Wasser etwas mehr als sechs Stunden bis die Flut ihren höchsten Stand erreicht hat. Die gleiche Zeit braucht es vom Hoch- zum Niedrigwasser.
Diesen Sechsstundenrhythmus macht sich die sogenannte Zwölfer-Regel zu nutze. Sie besagt, dass in der ersten Stunde nach Hochwasser 1/12 des Wassers abfließt, in der zweiten Stunde 2/12, in der dritten und vierten Stunde jeweils 3/12, in der fünften Stunde wieder 2/12 und in der sechsten Stunde das letzte Zwölftel. Daraus lassen sich zwei wichtige Dinge für das Paddeln im Gezeitenstrom ableiten: Da das meiste Wasser in der dritten und vierten Stunde auf- oder abläuft, ist zu dieser Zeit auch die Strömung am stärksten. Schafft man es in zu Beginn eines Strömungswechsels vielleicht noch kurze Zeit, gegen den Strom anzupaddeln, ist dies bald danach nicht mehr möglich. Umgekehrt erreicht man zur dritte und vierten Stunde Geschwindigkeiten von über 10 km/h, ohne dass man sich dafür besonders anstrengen muss. Und: Mit Hilfe der Zwölfer-Regel wird auch die Wasserhöhe berechnet. Das ist wichtig, will man herausfinden, wann man eine trocken fallende Stelle im Watt (sie sind in der Seekarte grün eingezeichnet und mit Höhenangaben versehen) befahren kann.
Ein Beispiel: Eine trocken fallende Höhe von 2,4 bedeutet, dass dieser Teil des Watts bei Ebbe 2,4 Meter über dem Seekartennull herausschaut. Bezugspunkt für das Seekartennull ist die LAT, die Lowest Astronomical Tide, also der niedrigste astronomisch mögliche Wasserstand. Um nun zu wissen, wann die Wattstelle befahren werden kann, muss man den "mittleren Tidenhub" an dieser Stelle kennen. Der "mittlere Tidenhub" ist die Differenz zwischen Hochwasser- und Niedrigwasserstand. Diesen kann man für ausgewählte Orte dem Gezeitenkalender entnehmen. Im Durchschnitt beträgt er rd. 3 m, was für unsere Zwecke als Näherungswert reicht. Ein Zwölftel von drei Meter sind 0,25 m. Das heißt also, dass in der ersten Stunde nach Niedrigwasser das Wasser um 0,25 m steigt. In der zweiten Stunde kommen 2/12, also 0,5 m, hinzu. Zwei Stunden nach Niedrigwasser ist das Wasser also um 0,75 m gestiegen. In der dritten Stunde kommen 0,75 m hinzu; der Wasserstand beträgt nun 1,50 m. Immer noch zu wenig, um die Stelle zu passieren. Und auch der Wasserstand von 2,25 m am Ende der vierten Stunde reicht für das Befahren noch nicht aus. Es dauert also fast bis zum Ende der fünften Stunde nach Niedrigwasser, um den 2,4 m hohen Wattrücken mit dem Seekajak befahren zu können.
Robinsbalje
Für die Tourenplanung rechnen wir mit einer Geschwindigkeit von 5 km/h, was bei dieser Strömung natürlich zu langsam ist. Deshalb haben wir schon kurz nach 9:00 Uhr einen Großteil der Robinsbalje abgepaddelt. Langsam fallen auch die ersten Sände trocken. Wir machen Pause. Bei Sonnenschein auf einer Sandbank im Wattenmeer zu verweilen, ist ein großartiges Erlebnis. Nirgendwo sonst auf der Welt verändert sich die Umgebung so schnell für uns wahrnehmbar wie in Tidengewässern. Was eben noch eine einzige Wasseroberfläche war, zeichnet sich plötzlich als leicht wellige Landschaft mit Flüssen und Seen ab. Und eines hat mich in den letzten Jahren immer wieder fasziniert: Seehunde. Sobald man sich in ihrer Nähe aufhält, dauert es nicht lange, bis sich einige Tiere scheinbar neugierig dem Tross der Kajakfahrer nähern. Aber die Seehunde wollen nicht spielen, sondern sie sind im Stress. Wir werden dahingehend abgeschätzt, ob wir für die Herde, die sich meist in wenigen Kilometern Entfernung mit den Jungtieren befindet, eine Gefahr darstellen.
Am Hechtsand - außerhalb der Zone 1 - geht es weiter Richtung Robbenloch. Auf der Karte: kein Problem. Die rot-weiße Kugeltonne scheint hier das gut sichtbare zentrale Seezeichen. Tatsächlich kann man nur erahnen wo sie liegt und sich langsam herantasten. Wir fahren mit einem Kurs Nord bis nördliches Nordost. Dann die praktische Umsetzung der Prüfungsfrage: Wann dürfen wir in das Nordertill einbiegen, ohne dass wir Gefahr laufen, in die Zone 1 bzw. das VSG/RSG einzudringen? Zu Hause haben wir lange über der Seekarte gebrütet, bis wir die Antwort gefunden haben. Dazu muss man die Formel für die Berechnung der Sichtweite (in Seemeilen) kennen: Sichtweite = 2,075 x (√ Augeshöhe + √ Objekthöhe). Für die Augeshöhe des Seekajakfahrers kann man 0,5 Meter setzen. Der Leuchtturm von Neuwerk ist 38 Meter hoch. Daraus ergibt sich folgende Rechnung: Sichtweite Leuchtturm Neuwerk = 2,075 x (√ 0,5 + √ 38) macht Sichtweite Leuchtturm Neuwerk = 13,7 sm.
Das bedeutet, dass man den Leuchtturm bei guter Sicht aus der Position eines Paddlers bis zu 13,7 sm oder rund 25 Kilometer weit sehen kann. Also eine für uns geeignete Landmarke. Wer jetzt auf der Seekarte eine Linie vom Leuchtturm Neuwerk zur Einfahrt in das Nordertill zeichnet, kommt auf einen 100° Kurs. Auf See wiederum ermitteln wir diesen mit Hilfe einer sogenannten Standlinienpeilung. Wir peilen den Leuchtturm immer wieder mit unserem Deckskompass an, bis er irgendwann auf 100° liegt. So finden wir die Einfahrt in das Nordertill. Jetzt ist das Schwierigste der Tour geschafft, auch wenn wir noch gut 15 Kilometer vor uns haben. Der Tidenkipp liegt hinter uns und wir haben bei auflaufenden Wasser eine mitlaufende Strömung. Gegen 14:00 Uhr erreichen wir Neuwerkloch. Von dort geht es von dort in Richtung Neuwerk. Am Fähranleger gehen wir an Land. Daniel hat uns die letzten acht Stunden bestens durch das Revier gelotst.
Neuwerk
Einen Campingplatz gibt es auf Neuwerk nicht. Aber einige Gastwirte halten Zeltwiesen bereit. Viele Hamburger nutzen Neuwerk, das offiziell Teil von Hamburg-Mitte ist, für einen Kurzurlaub. Entlang des beprickten Wattenwegs ziehen sie in großer Zahl mit Pferdegespannen auf die Insel. Als wir ankommen, ist die Wiese noch recht leer. Tags darauf gleicht sie Wallensteins Lager.
Elbfahrwasserquerung und Großer Vogelsand
Am nächsten Tag führe ich die Gruppe. Wir wollen im Uhrzeigersinn um Neuwerk herumfahren. Das bedeutet zunächst viel Rechnerei. Das Wattenhoch südwestlich von Neuwerk ist erst gegen 15:00 Uhr zu passieren. Der Strömungskipp auf dem Elbfahrwasser tritt um 12:30 Uhr ein. So starten wir gegen 10:00 Uhr und paddeln das Elbe-Neuwerk-Elbfahrwasser entlang der EN-Betonnung hoch. Später hätten wir keinesfalls los gedurft. Einige Stellen sind schon fast wieder trocken gefallen und wir kommen nur mit dem letzten Schluck Wasser rüber.
Bald queren wir das Elbfahrwaser und besichtigen die letzten Reste des Wracks der Ondo, die hier Anfang der sechziger Jahre auf dem Großen Vogelsand, dem "berüchtigten Schiffsräuber in der Elbmündung" (so Tim Schwabedissen in seinem lesenswerten Buch "Gestrandet" - Schiffsunglücke vor der Nordseeküste) auf Grund gelaufen und nicht wieder freigekommen ist. Dieses rostende Stahlskelett hat schon etwas Gruseliges an sich. Wir fahren zurück, queren nochmals das knapp eine Seemeile breite Elbfahrwasser, quasi eine Autobahn für die großen Pötte, gegen die sich die Schleppverbände auf der Havel wie Beiboote ausmachen.
Von Westen kündet sich eine Kaltfront an und die Wolkenberge türmen sich schnell auf. Als wir wieder in Höhe des Elbe-Neuwerkfahr-Wassers befinden, fragt Udo mich, was ich jetzt machen würde. Ich schlage vor, auf die Umrundung zu verzichten und direkt zurück nach Neuwerk zu fahren. Udo entscheidet sich für die Fortsetzung der Tour und ich halte nicht dagegen. Der Wind frischt auf, wir haben jetzt etwas rauere Bedingungen und so geht es weiter in Richtung des Weser-Elbe-Fahrwassers. Auch hier ist die Tonnendichte beeindruckend und ich habe Schwierigkeiten, die Tonne WE 32 ausmachen. Hanno sieht sie als erster. Jetzt müssen wir nur noch dem WE-Tonnenstrich folgen, dann geht es weiter entlang des Prickenwegs zum Neuwerkloch. Eigentlich. Über Neuwerk türmen sich jedoch schwarze Wolken auf und es wird jetzt ungemütlich. Der Wind kommt aus Südwesten und bald ist kein Vorankommen mehr. Das Sturmtief zieht voll über uns hinweg.
Nun zeigt sich Udos Erfahrung und Revierkenntnis. Schnell lotst er uns zu einer der Rettungsbaken, die entlang des Wattenwegs Wanderern, die vom Hochwasser überrascht werden, die Möglichkeit geben, sich in Sicherheit zu bringen. Er bindet zwei Boote an der Bake fest, wir gehen ins Päckchen. Bei sechs bis sieben bft gehen die Sturmboen über uns hinweg. In den Wellen knallt das Päckchen hoch und runter. Das Festhalten der Boote ist anstrengend. Von Neuwerk ist nichts zu sehen. Nach 45 Minuten ist die Front endlich durchgezogen. Wir lösen das Päckchen. Die Dünung ist immer noch beachtlich und ich brauche einige Minuten, bis ich mein Boot mit zittrigen Knien und gefühllosen Händen wieder auf Kurs habe. Aber Neuwerk ist wieder zu sehen und nach kurzer Zeit bin ich wieder auf dem Damm. Bald erreichen wir Neuwerk im Südosten der Insel. Der Vorfall wird von Udo später im Kanuforum dargstellt und dort diskutiert (http://forum.kanu.de/showthread.php?t=4344). Sicher: Im Nachhinein betrachtet wäre es besser gewesen, beim Elbe-Neuwerk-Fahrwasser direkt Neuwerk anzusteuern. Aber solche Situationen geschehen eben.
Zurück nach Cuxhaven
Am nächsten Tag lässt der Westwind eine Rückfahrt um das Scharhörner Watt herum nicht zu. Wir fahren deshalb nach Cuxhaven. Als wir das Elbe-Neuwerk-Fahrwasser durchquert haben, machen wir Pause auf dem Wattrücken und warten hier den Strömungskipp des Elbfahrwasers ab. Wir sind nicht alleine: Zwei Reiterinnen sind bis hier mit ihren Pferden ausgeritten. Wieder einmal ist es faszinierend, wie schnell sich diese Landschaft und ihre Gestalt sich verändert. Nachmittags erreichen wir den Seglerhafen von Cuxhaven.
Fotos und Text Gero M.