Der Himmel ist grau verhangen. Der Regen geht langsam in Schnee über. Zehn Paddler verlassen schweigend den Hafen von Harlesiel. Schweigen, das ist das Motto, unter dem der diesjährige Frühjahrsputz steht, jedenfalls bis zur Ankunft auf Wangerooge. Von der Insel ist nichts zu sehen. Wir fahren in zwei Gruppen, die sich, so der Plan von Bernhard, jeweils selbständig organisieren sollen. Eher daran gewöhnt, mich auf den Fahrtenleiter einzustellen, bin ich zunächst irritiert. Anderen geht es auch so. Dann aber stellt sich ganz schnell ein Gefühl ein, das bei den ungemütlichen Rahmenbedingungen nicht zu erwarten gewesen wäre. Die nonverbale Kommunikation klappt ziemlich gut und ein ordentlicher Südwind lässt uns gut Fahrt aufnehmen. Von einer echten Genusstour kann man noch nicht sprechen, aber ich fühle mich außerordentlich wohl. Und ich freue mich, an diesem Treffen teilnehmen zu können. Knapp eine Stunde brauchen wir bis zur Westseite von Wangerooge, wo wir an Land gehen und zur Jugendherberge rollern. Der Frühjahrsputz kann beginnen.
Am nächsten Morgen liegt Wangerooge unter einer leichten Schneedecke und die Sonne scheint fahl auf die Dünenlandschaft. Es verspricht ein schöner Tag zu werden, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Gegen 10:00 Uhr sitzen wir kurz vor Niedrigwasser in den Booten. Von der Westseite aus soll es um die Buhne H herumgehen. Je nachdem, wie sich der Wind entwickelt, wollen wir beim Kardinal am Ende der Buhne entscheiden, ob wir nach Spiekeroog queren oder seeseitig in Höhe des Leuchtturms an Land gehen. Auf den zu erwartenden Brandungssurf freue ich mich, nichts ahnend, was dieser Tag für mich noch bringen wird. An der Tonne kommt eine dritte Variante zur Abstimmung: Zurück in den Hafen von Wangerooge. Auch heute fahren wir in zwei Gruppen und die beiden Leiter können sich nicht einigen, wie es weiter gehen soll. Von einer schweigenden Tour kann man in diesem Moment nicht mehr sprechen. Mit deutlichen Worten wird eine Entscheidung gefällt. Wir fahren seeseitig weiter. Kurz darauf geht es überraschend an den Strand. Der Leuchtturm ist noch nicht erreicht, aber die Zugkräfte des Hafens bewirken wohl, dass die erste Gruppe bald umkehren möchte. Schulmäßig wie am Abend vorher besprochen gehen wir der Reihe nach an Land. Der Abstand zwischen den Buhnen ist relativ eng, der Wind kommt mit 4-5 bft aus Nordost und bei auflaufendem Wasser baut sich jetzt eine ordentliche Brandung auf. Die Landung verläuft reibungslos und im eisigen Wind wird pausiert. Trotz des zusätzlichen Regenumhangs wird mir schnell kalt. Nach 15 Minuten brechen wir auf und ich schaue respektvoll auf den Brandungsgürtel, den zu überwinden gilt. Einstieg und Start klappen gut. Die Spritzdecke ist schnell geschlossen, mein Boot stellt sich nicht quer zur Welle und nach einigen Paddelschlägen bin ich draußen.
Während sich die andere Gruppe bald zum Hafen aufmacht, wollen wir noch ein Stück weiter in Richtung Leuchtturm fahren, hinter der nächsten Buhne in der Brandung surfen und erst dann nach einer kurzen weiteren Landung zurückfahren. Soweit so gut. Der bisherige Verlauf der Tour macht mich sicher, dass das kein großes Problem werden wird. Ich sollte eines besseren belehrt werden. Zunächst verläuft alles nach Plan. Ich fahre auf den Strand zu und erreiche die Brandungszone. Die flache Stütze hilft bei diesem Brandungsdruck und dieser Wellenhöhe nicht. Mit der hohen Stütze lege ich mich in die Brandungswelle hinein und werde gut zehn Meter von der brechenden Welle versetzt. Aber ich bin fest mit meinem Paddel in der Welle verankert und bald richtet sich mein Boot wieder in Richtung See aus. In Hochstimmung ob dieses gelungenen Manövers will ich die Aktion wiederholen. Aber Bernhard mahnt zur Kräfteschonung. Innerlich muffele ich vor mich hin, halte mich aber zurück.
Wir gehen an Land. Wieder einige Minuten Pause. Die Brandung baut sich weiter auf. Anders als beim ersten Start vor gut 45 Minuten mache ich mir jetzt keine Sorgen. Auch scheint wieder alles nach Plan zu verlaufen. Die Spritzdecke geschlossen komme ich schnell ins tiefere Wasser. Die erste Brandungswelle schießt über mich hinweg, alles im grünen Bereich. Aber ich merke doch die Anstrengung der letzten Stunde. Und dann kommt es Dicke: Ein Brecher trifft mich mit einer für mich bis dahin nicht gekannten Wucht. Dem habe ich nichts entgegenzusetzen und so werde ich nicht nur zurückgeworfen: Ich kentere und nur mit Mühe schaffe ich es, irgendwie hoch zu rollen. Ich spüre wie meine Kräfte schwinden. Da rollt schon der zweite Brecher auf mich zu. Er bringt mich zwar nicht zum Kentern, aber es geht auch nicht vorwärts. Verstand und Körper sagen: "Das wird heute nichts mehr!" Der Ehrgeiz hält dagegen: "Das schaffen wir!" Kaum habe ich das Boot wieder auf Kurs gebracht, kommt der dritte Brecher. Bevor ich kentere, darf ich Erfahrung eines ausgedehnten Rückwärtssurfs machen. An Rollen ist jetzt nicht mehr zu denken. Nur mit Mühe komme ich aus dem Boot raus. Trenk ist Dank seiner Übersicht schnell zur Stelle. Jetzt habe ich den Tunnelblick, was ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht realisiere. Meine Mitfahrer sind noch draußen, kommen aber nach einigen Minuten zurück.
Eigentlich ist mir klar, dass ich jetzt schleunigst die Jugendherberge aufsuchen sollte. Aber so vernünftig das wäre - als der Entschluss fällt, die Boote über Land zu rollen und erst hinter der Buhne H auf's Wasser zu gehen, komme ich mit. Der Aufstieg über die asphaltierte Inselfestigung ist beschwerlich. Schnee und Eis machen die Schrägen zu einer Rutschbahn. Hinter der Buhne sieht es gut aus. Aber meine Wahrnehmung ist eingeschränkt und verzögert. So bemerke ich nicht den Brandungsschwall, der in rund 200 m Entfernung über die Buhne schießt. Als ich dort ankomme, gehe ich nach kurzer Zeit wieder baden. Ich habe keinerlei Bootsgefühl mehr. Unter Wasser unternehme ich noch den hilflosen Versuch zu rollen. Aber ich hänge wie ein Michelinmännchen unter dem Boot - nach der letzten Pinkelpause habe ich vergessen meinen Trockenanzug zu entlüften. Also steige ich aus. Nun erwarte ich die bekannten Kommandos für den Paralleleinstieg, die aber kommen nicht. Stattdessen weist Bernhard mich an, nicht nur mein, sondern auch sein Boot festzuhalten. Und so hänge ich wie bei einer Vierteilungsfolter im Mittelalter zwischen beiden Booten, während Bernhard Fahrt aufnimmt. Der Sinn dieses Kommandos erschließt sich mir nach einigen Sekunden. Der Brandungsschwall könnte einen Wiedereinstieg infolge eines erneuten Kenterns gefährden. Ich soll erst aus der Brandungszone gezogen werden. Irgendwann ist dann Trenk neben mir und ich kann schnell einsteigen. Hunderte von Wiedereinstiegsübungen machen sich nun bezahlt. Scheinbar bin ich jedoch in keiner guten Verfassung. Auf den Weg zum Hafen bei nunmehr ruhigem Wasser werde ich vorne und hinten, links und rechts eskortiert. Jeder zweite Paddelschlag wird mit den Worten "sehr schön", "ausgezeichnet" und "ja, das machst Du sehr gut", kommentiert. Ich glaube, dass ich schließlich nicht der einzige bin, der froh ist, dass ich an Land bin.
Meine nachträgliche Einschätzung der Situation: Die Kälte und den damit verbundenen Kräfteverlust habe ich trotz regelmäßigen Wintertrainings auf und im Wasser unterschätzt. Bereits vor der ersten Landung bin ich mehrfach gerollt. Der Aufenthalt im Wind und der Brandungssurf führten zum weiteren Kraftverlust. Das Ankämpfen gegen die drei heftigen Brecher tat sein Übriges dazu. Nach dem ersten nassen Ausstieg hätte ich definitiv Schluss machen müssen. Zu dieser rationalen Einschätzung bin ich aber nicht mehr in der Lage gewesen, weil ungewollte Kenterung und Kälte klares Denken und Handeln unmöglich gemacht haben. Fahrtenleiter kann ich nur ermuntern, hier konsequent auf einen Abbruch hinzuwirken. Die zweite Kenterung hinter der Buhne H war aus heutiger Sicht schlicht Folge des Vorgeschehens. Epilog: Am Sonntag geht es - wieder schweigend - zurück nach Harlesiel. Mein Bootsgefühl ist wieder vorhanden. Nach einer ausführlichen Manöverkritik am Samstagabend ist der Vorfall für mich aufgearbeitet. In Harlesiel mache ich meine zwei obligatorischen Hafenrollen. Der Schnee ist geschmolzen und die Sonne scheint.
Ein gutes Wochenende.
Fotos und Text Gero M.