Die Greifswalder Oie ist die am weitesten vom deutschen Festland entfernte Insel in der Ostsee. In der Nordsee gilt dies für die Insel Helgoland. Dieser Fakt reichte den Marketing-Experten vor fast 100 Jahren, die Oie als das Helgoland der Ostsee auszurufen. Welch hinkender Vergleich! Zumindest für den Paddler. Für ihn zählt jeder Kilometer. Oder, anders ausgedrückt, die Helgoland-Tour ist mit weit über 40 km Paddelstrecke nie wirklich gemütlich. Eine Tour zur Greifswalder Oie hingegen ist um drei viertel kürzer und kann sehr gemütlich werden. So etwa am letzten Februar-Sonnabend, als Windstärke 3, Sonnenschein und Temperaturen um den Gefrierpunkt prognostiziert waren. Kann ich mir diese Chance einer Wintertour zur Oie entgehen lassen? Nee.
Spontan fahre ich Freitagabend nach dem Spätdienst ins Bootshaus, lade das Boot aufs Auto, packe zu Hause meine Paddelklamotten, und versuche etwas zu schlafen, um 4 Stunden später auf der Matte zu stehen, Thermoskanne und Keksdose zu füllen und in den Sonnenaufgang zu starten. Die Prognose des wolkenlosen Himmels sollte schon mal stimmen. Der Tag fängt gut an.
Die Küste hinter Karlshagen überrascht mich mit einem Eissaum und einer leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Der Wind kommt aus Süd, also liegt der erste Kilometer unter Landabdeckung.
Ich wähle den direkten Weg, somit über einen Zipfel des Sperrgebiets hinweg. Das ist insofern nicht verwerflich, da dieser Teil des Sperrgebiets nicht die Natur schützt, sondern den Menschen. Es begrenzt ein Gebiet, in denen bei Schießübungen bis 1989 die Ziele u.a. der Volksmarine und der Luftstreitkräfte lagen. Für den geringen Tiefgang meines Kajaks also keine Gefahr auf einen Blindgänger oder der durchrosteten Hülle eines Torpedos aufzulaufen.
Ich kann auf Sicht fahren, auch wenn die Insel nur schemenhaft zu erkennen ist. Ein wolkenloser Himmel bedeutet eben nicht zwangsläufig Sonnenschein – es ist diesig. Das macht die Szenerie unheimlich - unheimlich schön, unheimlich ruhig. Wo im Sommer die Segler, die Angler und die Ausflügler mit ihren Booten und Dampfern unterwegs sind und den Blick auf den Horizont einengen, ist im Winter nichts als Wasser, Wellen, Weite – und Vögel. Sprach ich von Ruhe? Ruhig geht es bei denen nämlich nicht zu, es ist ein einziges Gezeter und Geschnatter. Aber doch wohl sehr ursprünglich und ich verstehe zudem glücklicherweise nicht, worüber disputiert oder gestritten wird. Dieser Geräuschpegel wird noch einmal um wenigstens das Dreifache angehoben, als sich ein Vogel erhebt und all die tausend anderen dies als Zeichen des Aufbruchs verstehen. Danach ist wirklich Ruhe! Ich höre auf zu paddeln. Stille. Nur Wasser und Horizont und dazwischen die Greifswalder Oie - für solche Momente habe ich mich vor 11 Jahren für das Seekajakfahren entschieden.
Mit der Entfernung zum Ufer steigt die Wellenhöhe. Die Wellen kommen von schräg achterlich und sind nicht so flach, wie man sie sich bei Windstärke 3 vorstellt. Zum einen ist da noch die Dünung der letzten Wind-Tage, aber viel stärker wirkt die Struktur des Meeresbodens. Die Greifswalder Oie war vor einiger Zeit noch mit Rügen, Usedom und der Insel Ruden verbunden. Der Greifswalder Bodden – eine Lagune. Ob es den Zugang über das heutige Ost- und Landtief schon gab, weiß ich nicht. Aber diese beiden Rinnen sind auch heute noch für die Seeschiffahrt die einzige Möglichkeit von der Ostsee in den Bodden zu kommen. Denn unterseeisch gibt es die Landverbindungen noch immer – als Boddenrandschwelle. Diese trennt als Riff den flachen Bodden von der tiefen See. Der Paddler sollte dies wissen, denn für ihn bedeutet dieses Riff, dass sich hier Brandung aufbaut. Auch bei wenig Wind.
Ich paddle also entlang des Oie-Riffs und habe meinen Spaß in den Wellen. Es geht zügig voran. Kurz vor der Oie dann doch noch einmal ein Lärm. Es sind die Laute einer Kegelrobbe, die auf einer vorgelagerten Sandbank mit ihren Artgenossen kommuniziert. Ich fahre in großem Abstand daran vorbei. Später sehe ich noch drei spielende Robben unweit meines Bootes. Die Köpfe flach aus dem Wasser schauen sie sich neugierig um. Nur kurz, dann sind sie schon wieder weg. Unter Wasser wartet das Abenteuer.
Nach 12,6 km Fahrt werde ich auf der Greifswalder Oie von Eugen begrüßt, dem Seenotkreuzer der DGzRS. Sonst ist niemand zu sehen. Ich halte den Aufenthalt auf der Insel kurz, er ist offiziell nur angemeldeten Gästen erlaubt. Ich bin nicht angemeldet, denke aber, dass ich das Tageskontingent von maximal 50 Personen heute nicht überstrapaziere.
Auf der Rücktour orientiere ich mich an der Insel Ruden. Der Wind hat gedreht, so dass ich wieder schräg achterliche Wellen verspüre. Je näher ich dem Ruden komme, desto kabbeliger wird es. Ich erreiche das Osttief und fahre am Tonnenstrich entlang. Rechts und links die Flachwasser des Peenemünder Hakens und des Ruden.
In der Tonnenbankrinne schneide ich plötzlich eine spiegelglatte Wasseroberfläche. Der Wind hat sich hinter Usedom zurückgezogen. Keine Bewegung, kein Mensch, kein Tier, kein Laut. Alles um mich herum sieht unwirklich aus. Ein Traum? Ich lasse ihn auf mich wirken. Spätestens jetzt wird mir bewusst, warum ich mir den Trocki zugelegt habe. Und auf den letzten Kilometern nach Peenemünde denke ich euphorisch: Nichts kann eine Tour zur Greifswalder Oie toppen als eine Winter-Tour zur Greifswalder Oie!
Und Helgoland? Kein Vergleich!